Langzeitstudie deckt auf: Rohe Bürgerlichkeit und soziale Vereisung
„Lieber arm dran als Arm ab!“ – Eine überaus oberflächliche und bescheiden humorige Betrachtung derjenigen, denen wohl auch seit 2002 eine Langzeitstudie gilt, anhand deren Ergebnissen festzustellen sein soll, welches Ausmaß Vorurteile in Deutschland bereits erreicht haben, wie diese sich entwickeln konnten und welche Ursachen dafür zu bestimmen sind.
Im Zusammenhang mit den Folgen der Wirtschaftskrise wurde aktuell eine „deutliche Vereisung des sozialen Klimas“, eine rohe Bürgerlichkeit und ein stärker spürbarerer Klassenkampf von oben erkennbar. In unserer wirtschaftlich geprägten Gesellschaft gelten dabei Muslime und „wirtschaftlich Nutzlose“ als die sozialen Feindbilder.
Im 9. Report „Deutsche Zustände“ in jährlicher Folge stehen dann auch die Antworten dazu , wie sich denn das Gefühl der Bedrohung durch die Wirtschaftskrise auf Einstellungen zu schwachen Gruppen auswirkt? Lässt unsere Gesellschaft dabei noch Solidarität erkennen und wie zeichnet sich dies insbesondere in den höheren Einkommensgruppen ab?
Und das zentrales Ergebnis macht unumwunden deutlich: In höheren Einkommensgruppen ist ein deutlicher Anstieg an abwertenden, menschenfeindlichen Einstellungen gegenüber diversen schwachen Gruppen zu erkennen, die befeuert wird von politischen, medialen und wissenschaftlichen Eliten. Im Urteil dazu ist wohl nur eine Feststellung richtig: Die Fakten müssen als eine deutliche Vereisung des sozialen Klimas interpretiert werden.
Wer schafft „Deutsche Zustände“? – Ein Langzeitstudie
Seit 10 Jahren wird wissenschaftlich die ‚gruppenbezogene‘ Menschenfeindlichkeit in Deutschland untersucht. Neugierig machen das Ausmaß, die Entwicklungen und die Ursachen bei gegebenen Vorurteile.
Ziel der Studie ist es, eine anhaltende, sich gegebenenfalls steigernde Abwertung von Menschen erkennbar zu machen, die auf ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder auf sozialen Gründen beruht.
Die Wissenschaftler des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld gehen von zehn „Vorurteilen“ gegen unterschiedliche Adressaten-Gruppen aus.
Mit diesen Vorbehalten wird ein gemeinsamer Kern geteilt, was bedeutet, dass dieser als eine Ideologie der Ungleichwertigkeit zu identifizieren ist.
Das Projekt ist das weltweit das größte Vorurteilsprojekt, bei dem jährlich eine repräsentative Auswahl der deutschen Bevölkerung – diesmal 2000 Personen – befragt wurden.
Bürgertum – verroht und kulturlos
Was nun aber ist die bereits erkannte zunehmende „rohe Bürgerlichkeit“? Die sich dadurch auszeichne, dass es wegen ökonomischer wie auch gesellschaftlicher Kriseneffekten eine deutlich „entsicherte wie entkultivierte Bürgerlichkeit“ gebe, die auch über „angeblich liberale Tages- und Wochenzeitungen“ verbreitet werde.
Daraus habe sich gar eine neue Formel entwickelt. Der begleitende Abbau von sozialstaatlichem Anrecht auf Unterstützung lautet: Gnade durch Wohlhabende und Selbstverantwortung der sozial Schwachen.
Für die Wissenschaftler ist klar, dass der bislang gepflegte Konservatismus nach und nach abgelegt werde. Es zeichnet sich wohl ein Wandel ab, weg von der zivilisierten, toleranten, differenzierten Einstellungen in höheren Einkommensgruppen zu einer unzivilisierten und intoleranten Haltung.
Bereits ab 2500 Euro Haushalts-Nettoeinkommen pro Kopf – umgerechnet und gewichtet nach Anzahl der Personen im Haushalt – nimmt die Zustimmung zu Etablierten-Vorrechten und Islamfeindlichkeit besonders deutlich zu. Trotzdem man sich höherer Einkommensgruppe weiß, wirke auch höhere Bildung der zunehmenden Islamfeindlichkeit nicht entgegen.
Schwäche! – Ungeniert abzuwerten
Auch die Ent-Solidarisierung der Besserverdienenden fällt bei den Ergebnissen der Studie ins Auge. Wehr mehr hat als andere, wer als „wohlhabender“ ist, der fühlt sich ungerecht behandelt. Und dies trotz der Kenntnis einer nachweislichen Umverteilung von unten nach oben, was der Verlauf von Lohn-Quote und die Gewinn-Quote beweisen.
Ein „semantischer Klassenkampf von oben wird ungeniert offenbart“, äußern sich die Wissenschaftler. Am konkreten Beispiel bedeutet, dass Langzeitarbeitslose von Besserverdienende deutlich stärker abgewertet werden, als Befragte in niedrigeren Einkommensgruppen dies tun.
Wer Menschen nach ökonomistischer Sicht, nach ihrem Nutzen beurteilt, neigt der Studie zufolge deutlich eher zur Abwertungen schwacher Gruppen. Ein solcher Zusammenhang ist dort besonders hoch, wo man sich selbst „oben“ verortet. Als Schlagzeile betont: Sozialer Verhältnisse ökonomistisch durchdrungen!
Jedem sein Feindbild
Gleichzeitig gilt das Verhältnis von regierender Politik und gesellschaftlichen Gruppen als dauerhaft g gestört, was sich in einem rechtspopulistischen Potential, verbunden mit einer islamfeindlichen Einstellung, als aggressiv aufgeladen zeige.
Dieses gilt als vorrätig in allen gesellschaftlichen Gruppen, sei aber in höheren Einkommensgruppen „auffällig und gefährlich“ am zunehmen. Der Grund liege darin, dass die rohe Bürgerlichkeit und ihre „Mobilisierungs-Experten“ in Medien die angebliche Dekadenz unserer Gesellschaft, das Verschweigen von Integrationsproblemen und die fehlende Leistungsbereitschaft „unten in der Gesellschaft“ aggressiv beklagt wird.
Diese Dekadenz zu bekämpfen, bedarf in der logischen Konsequenz inter-gesellschaftliche Feindbilder. Dazu zählen Muslime und die benannten „wirtschaftlich Nutzlose“.
Kann das beruhigen…?
Wenn rechtspopulistische Positionen vermeintliche angebliche Sicherheit in unruhigen Zeiten versprechen, nimmt dies Erwartung mit dem Alter zu und gilt in einer alternden Gesellschaft keinesfalls als beruhigende Prognose für die Qualitäten einer Demokratie.
Insgesamt sind dies für den sozialen Zusammenhalt in einer zunehmend ethnisch-kulturell heterogenen Gesellschaft eher negative Signale.
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